Wie kann man mit Mentoring der Selbstüberschätzung im Geschäftsleben beherzt auf die Schliche kommen und sie zähmen?
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Selbstüberschätzung, englisch „overconfidence“, ist ein emotionaler Zustand, in dem wir uns anderen Menschen konstant haushoch überlegen fühlen und unseren Erfolg nur unseren eigenen Fähigkeiten zuschreiben. Es ist ein Rauschzustand. Wir meinen, alles unter Kontrolle zu haben, über alles Bescheid zu wissen oder jeden Widerstand beiseite fegen zu können.
Ein erschreckendes Beispiel dafür, wie durch Selbstüberschätzung ein Gründer*innenteam Millionen von Investitionsgeldern verbrannte und Mitarbeiter*innen, Öffentlichkeit und Geldgeber*innen in einem größenwahnsinnigen Lügengebäude einlullte, ist das des Medizin-Startups Theranos. Die Startup-Gründerin Elisabeth Holmes hatte behauptet, mit einem Tropfen Blut zahlreiche medizinische Tests vornehmen zu können. Dieses Versprechen stellte sich als unhaltbare Lüge heraus: Enzyme, bestimmte Antikörper, Drogen im Blut, Herpesviren und Krebsmarker – nichts davon konnte mit dem Theranos-Bluttest verlässlich diagnostiziert werden. Der Autor John Carreyrou hat die Einzelheiten dieses Firmenbetrugs in seinem Buch „Bad Blood: Secrets and Lies in a Silicon Valley Startup“ ausgiebig recherchiert. Im Fall von Theranos hat sich Selbstüberschätzung direkt mit krimineller Energie verbunden.
Niemand kann ewig im Rausch der Selbstüberschätzung leben. Entsetzliche Abstürze in Geschäftskatastrophen kommen, wenn Gründer*innen keine Warnantennen ausbilden, wo die Selbstüberschätzung für sie persönlich lauert. Wir können in Europa beginnen zu zeigen, dass wir der „Fake-it-till-you-make-it“-Kultur, die das Silicon Valley in den USA nicht ablegen will, etwas entgegen zu setzen haben: eine „Build-on-reliable-results“- Kultur. Mentor*innen sehe ich als die unerschütterlichen Kratzbäume, mit deren Hilfe Gründer*innen schlaue, robuste und sensible „Selbstüberschätzungs-Alarmanlagen“ ausbilden können.
Im Leben der Militärs lässt man Abfangjäger, also Jagdflugzeuge, aufsteigen, um eine Feindlage besser beurteilen zu können und den Feind rechtzeitig ausmachen, abdrängen oder sogar vernichten zu können. Ich nenne meine Mentoring-Methode, angelehnt an dieses Bild, deshalb „Selbstüberschätzungs-Abfangjäger“.
Es ist heute Mode, über Fakten und Schwierigkeiten hinweg zu gleiten. Die Selbstdarstellungen von Gründer*innen strotzen vor glattgebügelten Lebensläufen und aufgeblasenen Beschreibungen von Kenntnissen und Berufserfahrung. Die Identität eines Gründers oder einer Gründerin ist aber viel facettenreicher, als wir es bisher im Geschäftsleben wahrnehmen wollen.
Ich kitzle daher aus meinen Mentees ihre eigenen unkonventionellen Talente heraus: Das sind spielerischer Umgang mit Problemen (Jester Bliss), Weitblick in Vergangenheit und Zukunft (Visionary Bliss) und die furchtlose Sicht auf Widersprüchlichen (Maverick Bliss). Zur Erinnerung: Unsere konventionellen Business-Talente sind Durchsetzungsvermögen, strategisches Denken und Problemlösekompetenz.
Es ist verblüffend, wie Gründer*innenpersönlichkeiten reifen, wenn sie gelernt haben, sich auf diese Eigenschaften ihrer Gründerpersönlichkeit zu konzentrieren: sinnesfroh, tiefgründig, unbelastet. Wer als Gründer*in mit Widersprüchlichem zu spielen vermag, der will die Zukunft nicht idealisieren. Wer als Gründer*in überall Handlungsoptionen erkennt, entkommt der Gefahr, besserwisserisch und engstirnig aufzutreten. Wer als Gründer*in Traditionelles und Modernes in sich versöhnt, baut sein Unternehmen schöpferisch auf und schützt sich davor, nur optimieren zu wollen.
Gute Mentor*innen erlauben nicht, dass die Mentees in oberflächlicher Manier über die Geschehnisse in der Welt räsonieren und Eindruck heischend herum phantasieren. Viele Gründer*innen entwickeln schon früh einen Tunnelblick, der sie lähmt. Innovative Business Mentor*innen fordern Gründer*innen heraus, sich aus anderen Lebenssphären, als der der Geschäftswelt, zu nähren. Ich gehe gern so vor: Am Anfang füttere ich Mentees mit inspirierenden Beobachtungen und Erkenntnissen aus Kunst, Wissenschaft und Politik. Aufmerksam für das Zeitgeschehen in vielfältigen Wissenssphären zu sein, wird so geschult.
„Welche Emotionen kitzeln diese Musiker*innen heraus?“, „Was bedeuten bestimmte Forschungsergebnisse für die Menschheit?“ oder „Wie wirkt sich eine bestimmte politische Bewegung auf die Globalisierung aus?“: Gründer*innen beginnen, durch die Auseinandersetzung mit solchen Fragen unvoreingenommen über den „Geschäfts-Tellerrand“ zu blicken. Und werden – im besten Falle – angestachelt, ihre Geschäftsidee unter kulturelle, soziale und emotionale Brenngläser zu legen. Im nächsten Schritt lasse ich meine Mentees selbst zum Weltgeschehen ihre Eindrücke sammeln und über Konsequenzen für die Produktwahl ihres Unternehmens reflektieren. Plötzlich lösen sich Knoten. Startups schalten einen Gang kreativer. Es sprudelt Kombinationen von Produkten und Services, die wirklich zu den jeweiligen Gründer*innen passen und Kund*innen regelrecht beglücken.
Damit punktuelle Selbstüberschätzung nicht Gefahr läuft, sich zu einem schädlichen Größenselbst zu verdichten, braucht es emotionale Wachsamkeit der Gründer*innen. Es ist für Gründer*innen deshalb ein Gebot für ihre seelische Gesundheit, dass sie ein Gespür für Unreife in ihrer Gründerpersönlichkeit entwickeln.
Enrique Rochas, emeritierter Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Universidad de Extremadura (Spanien) hat eindringlich 10 Charaktereigenschaften einer unreifen Persönlichkeit beschrieben:
Ich ermutige Gründer*innen, sich regelmäßig diese Liste vorzunehmen und ehrlich einzuschätzen, in welchen Situationen, gegenüber welchen Gesprächspartner*innen, sie eine oder mehrere unreife Charaktereigenschaften praktiziert haben. Das reicht schon völlig aus, um Gründer*innen zu sensibilisieren. Am schmerzlichsten wird von meinen Mentees empfunden, wenn sie der Realitätssinn verlässt, der sich ihrer Meinung nach am deutlichsten in völlig unangemessener Überidentifikation mit den Angelegenheiten des Startups ausdrückt. Emotional instabil zu sein, wird als größtes Warnsignal für Selbstüberschätzung verstanden. Sie erleben das als ein Schwanken zwischen Euphorie und Melancholie. Himmelhoch-jauchzend wechselt mit zu Tode betrübt. Durch diesen verrückten Gefühlscocktail fühlen sie sich bei Geschäftsentscheidungen den eigenen Stimmungen ausgeliefert und vermissen einen klaren Kopf.
Es geht beim innovativen Mentoring gar nicht darum, gleich therapeutische Lösungen zu suchen, sondern darum, die Mentees zu lehren, sich ganz ruhig einen Spiegel vorzuhalten. Wird unreifes Verhalten als solches erkannt, wissen Mentees oft selbst, wie sie sich gegen die verunsichernden emotionalen Impulse wehren können.
Ganz gleich, von welchem Selbstbild und welchem Geschäftsmodell Gründer*innen aus starten, sie springen auf diese Mentoring-Methode positiv an:
Die größte Resonanz finde ich allerdings bei:
(Titelbild: © Grace Ho on Unsplash | Fotos Straßenschilder: © Patricia von Papstein)
Veröffentlicht am 26. Februar 2020